Modul 4 – Emotion Labeling: Emotionale Übersteuerung durch Benennung entschärfen

Was ist Emotion Labeling – und warum ist es so neurologisch wirksam?

Emotion Labeling – auf Deutsch oft „Affektbenennung“ genannt – ist die Fähigkeit, eine emotionale Erfahrung im Moment ihrer Entstehung bewusst sprachlich zu benennen. Dabei sagst oder schreibst du:

„Ich spüre Wut.“
„Ich fühle mich gerade ängstlich.“
„Das ist Scham, was ich jetzt erlebe.“

Das klingt fast zu einfach. Aber dieser Mini-Satz löst im Gehirn messbare neurobiologische Effekte aus. Studien mit fMRT zeigen:

  • Die Amygdala, unser Alarmsystem für Emotionen, wird deaktiviert
  • Der ventrolaterale präfrontale Cortex – zuständig für emotionale Kontrolle – wird aktiviert
  • Es entsteht eine funktionale Verschiebung vom limbischen System zur kognitiven Kontrolle

Der Effekt: Die Emotion verliert ihre reaktive Macht. Du bekommst wieder Zugriff auf den Handlungsspielraum – ohne sie wegzudrücken.


Was bewirkt Emotion Labeling genau – neurologisch, emotional, verhaltenspsychologisch?

1. Neurologisch:

  • Amygdala-Aktivität sinkt in weniger als 2 Sekunden nach dem Benennen
  • Stärkung des präfrontalen Top-Down-Managements über emotionale Impulse
  • Hemmung von automatisierten Fight-or-Flight-Reaktionen

2. Emotional:

  • Klarheit ersetzt diffuse Überwältigung
  • Du fühlst dich nicht mehr als Opfer deiner Emotion, sondern als Zeuge mit Einfluss
  • Langfristig entsteht emotionale Resilienz durch Wiederholung

3. Verhaltenspsychologisch:

  • Du handelst weniger impulsiv
  • Konfliktsituationen eskalieren seltener
  • Emotionale Ausdrucksfähigkeit steigt: Besserer Zugang zu dir und zu anderen

Wann brauchst du Emotion Labeling – konkret im Alltag?

  • Bei innerer Anspannung ohne klaren Grund
  • Nach einem Trigger (Konflikt, Kritik, Überforderung)
  • Bei körperlichen Stresssymptomen (Enge, Druck, Herzrasen)
  • In zwischenmenschlichen Konflikten
  • Bei Rückfall in alte Reaktionsmuster

Regel:
Je stärker du aus dem Nichts emotional aufgeladen bist, desto wahrscheinlicher ist, dass nur die Benennung fehlt.


Wie funktioniert Emotion Labeling – Schritt für Schritt?

1. Erkennen, dass etwas „hochkommt“

Körperlich: Enge, Herzschlag, Hitzewallung, Zittern
Gedanklich: Grübeln, Rechtfertigung, Fluchtimpuls
Emotional: Wellen von Wut, Scham, Angst

2. 1–3 Sekunden Pause

Nichts tun. Nicht sprechen. Nicht reagieren. Nur registrieren: „Okay – da ist was.“

3. Affekt benennen

Sprich den Satz aus (laut oder innerlich):

„Ich spüre gerade …“
„Das ist … was ich gerade fühle.“

Wichtig: Nur ein Begriff. Nicht: „Ich bin gestresst, überfordert und unsicher.“ → Das ist Ausweichen.

Beispielhafte Kernemotionen:

  • Wut
  • Angst
  • Scham
  • Trauer
  • Freude
  • Ekel
  • Überraschung

4. Optional: Ursprung benennen (Reframing)

„… weil ich mich gerade kritisiert gefühlt habe.“
„… weil mir etwas entgleitet.“

Ziel: Verbindung herstellen, nicht Erklärung liefern.

5. Nichts tun – nur spüren

Kein Handlungsdruck. Nur registrieren, wie die emotionale Ladung sich verändert.


Dos & Don’ts – Für echte Wirkung statt Worthülsen

Dos:

  • Klar, kurz und ehrlich formulieren
  • Nicht zensieren – wenn es Scham ist, benenne es. Nicht „Enttäuschung“ sagen, weil es leichter klingt
  • Regelmässig trainieren, auch in kleinen Momenten
  • Im Körper spüren, was sich verändert, wenn du benennst
  • Optional: aufschreiben → Verstärkt die kognitive Verarbeitung

Don’ts:

  • Nicht analysieren. Nur benennen, nicht erklären.
  • Keine Wortflut – maximal 1–2 Begriffe
  • Kein „Ich denke, dass ich vielleicht fühle …“ → Entschlossenheit ist entscheidend
  • Nicht erst nach dem Konflikt, sondern im Moment

Beispiel-Dialog mit dir selbst – vor vs. nach Emotion Labeling

Vor:

  • Gedanke: „Die ignorieren mich schon wieder!“
  • Gefühl: Hochfahrende Wut
  • Reaktion: Sarkastischer Kommentar, innere Isolation

Nach Emotion Labeling:

  • „Ich spüre gerade Wut, weil ich mich ausgeschlossen fühle.“
  • Inneres Loslassen
  • Handlung: „Ich spreche es sachlich an – ohne Vorwurf.“

Der Unterschied ist nicht semantisch. Er ist neurobiologisch. Du bist aus der Amygdala raus.


Wie du deine Fortschritte misst

1. Emotionale Klarheitsskala (täglich)
Skala 1–10:

  • 1 = „Ich weiss nicht, was ich fühle“
  • 10 = „Ich kann es in Echtzeit benennen“

Ziel: Durchschnitt > 7 nach 2 Wochen Praxis

2. Anzahl Reaktionsverschiebungen pro Woche

  • Wie oft hast du durch Benennen nicht impulsiv reagiert?
  • Ziel: 3×/Woche bewusst umgesteuert

Wie du Emotion Labeling im Alltag etablierst

  • Karte mit Emotionen in Portemonnaie oder am Monitor
  • Trigger-Tagebuch: Notiere 1×/Tag, bei welchem Reiz du welche Emotion gespürt hast
  • Reflexionssatz am Abend:


    „Heute habe ich gespürt …, und es war okay, das zu fühlen.“

Optional: Kombiniere mit Gedankenprotokoll (Modul 3) für Verzerrungsentkopplung + Emotionssteuerung


Langfristige Wirkung (nach 2–4 Wochen Anwendung)

  • Weniger emotionale Eskalationen
  • Stärkere Konfliktstabilität
  • Erhöhte emotionale Selbstwirksamkeit
  • Tieferes Selbstverständnis
  • Stärkung des Vertrauens in eigene Empfindungen
  • Präventiver Effekt: Reize verlieren ihre Macht

Weiterführende Ressourcen

YouTube-Videos

  1. „Name It to Tame It – The Neuroscience of Emotion Labeling“ – Dr. Dan Siegel
    https://www.youtube.com/watch?v=ZcDLzppD4Jc
    (Grundlagen, erklärt von einem führenden Neuropsychologen)
  2. „The Power of Labeling Emotions“ – The School of Life
    https://www.youtube.com/watch?v=0Yk6Kf5XYOo
    (Emotional-intelligente Umsetzung für den Alltag)

Artikel

  1. „Putting Feelings into Words: Affect Labeling Disrupts Amygdala Activity“ – UCLA Study (Lieberman et al.)
    https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC2424104/
    (fMRT-basierte Studien zur Hirnaktivität bei Benennung)

„Naming Emotions to Calm the Brain“ – Psychology Today
https://www.psychologytoday.com/us/blog/the-athletes-way/201403/naming-emotions-calm-the-brain
(Populärwissenschaftlich fundierte Erklärung + Anwendung)

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