Was ist Emotion Labeling – und warum ist es so neurologisch wirksam?
Emotion Labeling – auf Deutsch oft „Affektbenennung“ genannt – ist die Fähigkeit, eine emotionale Erfahrung im Moment ihrer Entstehung bewusst sprachlich zu benennen. Dabei sagst oder schreibst du:
„Ich spüre Wut.“
„Ich fühle mich gerade ängstlich.“
„Das ist Scham, was ich jetzt erlebe.“
Das klingt fast zu einfach. Aber dieser Mini-Satz löst im Gehirn messbare neurobiologische Effekte aus. Studien mit fMRT zeigen:
- Die Amygdala, unser Alarmsystem für Emotionen, wird deaktiviert
- Der ventrolaterale präfrontale Cortex – zuständig für emotionale Kontrolle – wird aktiviert
- Es entsteht eine funktionale Verschiebung vom limbischen System zur kognitiven Kontrolle
Der Effekt: Die Emotion verliert ihre reaktive Macht. Du bekommst wieder Zugriff auf den Handlungsspielraum – ohne sie wegzudrücken.
Was bewirkt Emotion Labeling genau – neurologisch, emotional, verhaltenspsychologisch?
1. Neurologisch:
- Amygdala-Aktivität sinkt in weniger als 2 Sekunden nach dem Benennen
- Stärkung des präfrontalen Top-Down-Managements über emotionale Impulse
- Hemmung von automatisierten Fight-or-Flight-Reaktionen
2. Emotional:
- Klarheit ersetzt diffuse Überwältigung
- Du fühlst dich nicht mehr als Opfer deiner Emotion, sondern als Zeuge mit Einfluss
- Langfristig entsteht emotionale Resilienz durch Wiederholung
3. Verhaltenspsychologisch:
- Du handelst weniger impulsiv
- Konfliktsituationen eskalieren seltener
- Emotionale Ausdrucksfähigkeit steigt: Besserer Zugang zu dir und zu anderen
Wann brauchst du Emotion Labeling – konkret im Alltag?
- Bei innerer Anspannung ohne klaren Grund
- Nach einem Trigger (Konflikt, Kritik, Überforderung)
- Bei körperlichen Stresssymptomen (Enge, Druck, Herzrasen)
- In zwischenmenschlichen Konflikten
- Bei Rückfall in alte Reaktionsmuster
Regel:
Je stärker du aus dem Nichts emotional aufgeladen bist, desto wahrscheinlicher ist, dass nur die Benennung fehlt.
Wie funktioniert Emotion Labeling – Schritt für Schritt?
1. Erkennen, dass etwas „hochkommt“
Körperlich: Enge, Herzschlag, Hitzewallung, Zittern
Gedanklich: Grübeln, Rechtfertigung, Fluchtimpuls
Emotional: Wellen von Wut, Scham, Angst
2. 1–3 Sekunden Pause
Nichts tun. Nicht sprechen. Nicht reagieren. Nur registrieren: „Okay – da ist was.“
3. Affekt benennen
Sprich den Satz aus (laut oder innerlich):
„Ich spüre gerade …“
„Das ist … was ich gerade fühle.“
Wichtig: Nur ein Begriff. Nicht: „Ich bin gestresst, überfordert und unsicher.“ → Das ist Ausweichen.
Beispielhafte Kernemotionen:
- Wut
- Angst
- Scham
- Trauer
- Freude
- Ekel
- Überraschung
4. Optional: Ursprung benennen (Reframing)
„… weil ich mich gerade kritisiert gefühlt habe.“
„… weil mir etwas entgleitet.“
Ziel: Verbindung herstellen, nicht Erklärung liefern.
5. Nichts tun – nur spüren
Kein Handlungsdruck. Nur registrieren, wie die emotionale Ladung sich verändert.
Dos & Don’ts – Für echte Wirkung statt Worthülsen
Dos:
- Klar, kurz und ehrlich formulieren
- Nicht zensieren – wenn es Scham ist, benenne es. Nicht „Enttäuschung“ sagen, weil es leichter klingt
- Regelmässig trainieren, auch in kleinen Momenten
- Im Körper spüren, was sich verändert, wenn du benennst
- Optional: aufschreiben → Verstärkt die kognitive Verarbeitung
Don’ts:
- Nicht analysieren. Nur benennen, nicht erklären.
- Keine Wortflut – maximal 1–2 Begriffe
- Kein „Ich denke, dass ich vielleicht fühle …“ → Entschlossenheit ist entscheidend
- Nicht erst nach dem Konflikt, sondern im Moment
Beispiel-Dialog mit dir selbst – vor vs. nach Emotion Labeling
Vor:
- Gedanke: „Die ignorieren mich schon wieder!“
- Gefühl: Hochfahrende Wut
- Reaktion: Sarkastischer Kommentar, innere Isolation
Nach Emotion Labeling:
- „Ich spüre gerade Wut, weil ich mich ausgeschlossen fühle.“
- Inneres Loslassen
- Handlung: „Ich spreche es sachlich an – ohne Vorwurf.“
Der Unterschied ist nicht semantisch. Er ist neurobiologisch. Du bist aus der Amygdala raus.
Wie du deine Fortschritte misst
1. Emotionale Klarheitsskala (täglich)
Skala 1–10:
- 1 = „Ich weiss nicht, was ich fühle“
- 10 = „Ich kann es in Echtzeit benennen“
Ziel: Durchschnitt > 7 nach 2 Wochen Praxis
2. Anzahl Reaktionsverschiebungen pro Woche
- Wie oft hast du durch Benennen nicht impulsiv reagiert?
- Ziel: 3×/Woche bewusst umgesteuert
Wie du Emotion Labeling im Alltag etablierst
- Karte mit Emotionen in Portemonnaie oder am Monitor
- Trigger-Tagebuch: Notiere 1×/Tag, bei welchem Reiz du welche Emotion gespürt hast
- Reflexionssatz am Abend:
„Heute habe ich gespürt …, und es war okay, das zu fühlen.“
Optional: Kombiniere mit Gedankenprotokoll (Modul 3) für Verzerrungsentkopplung + Emotionssteuerung
Langfristige Wirkung (nach 2–4 Wochen Anwendung)
- Weniger emotionale Eskalationen
- Stärkere Konfliktstabilität
- Erhöhte emotionale Selbstwirksamkeit
- Tieferes Selbstverständnis
- Stärkung des Vertrauens in eigene Empfindungen
- Präventiver Effekt: Reize verlieren ihre Macht
Weiterführende Ressourcen
YouTube-Videos
- „Name It to Tame It – The Neuroscience of Emotion Labeling“ – Dr. Dan Siegel
https://www.youtube.com/watch?v=ZcDLzppD4Jc
(Grundlagen, erklärt von einem führenden Neuropsychologen) - „The Power of Labeling Emotions“ – The School of Life
https://www.youtube.com/watch?v=0Yk6Kf5XYOo
(Emotional-intelligente Umsetzung für den Alltag)
Artikel
- „Putting Feelings into Words: Affect Labeling Disrupts Amygdala Activity“ – UCLA Study (Lieberman et al.)
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC2424104/
(fMRT-basierte Studien zur Hirnaktivität bei Benennung)
„Naming Emotions to Calm the Brain“ – Psychology Today
https://www.psychologytoday.com/us/blog/the-athletes-way/201403/naming-emotions-calm-the-brain
(Populärwissenschaftlich fundierte Erklärung + Anwendung)